Schach ist wirklich verdammt schwer. Eben freut sich der Anfänger noch über die einfache Gangart der Bauern, um dann mit zunehmender Spielstärke feststellen zu müssen, dass es der schwierigste Stein auf dem Brett ist. Mit einem unbedachten Bauernzug kannst du deine ganze Stellung ruinieren. Vielleicht geht der vorwitzige Bauer verloren – oder du hast dir irreparable Felderschwächen eingehandelt – oder die Wirkung deines Läufers entscheidend eingeschränkt – oder dem Gegner eine Angriffsmarke geschaffen – oder dein Bauernzug war einfach nur schlecht.
Es ist ein Glücksfall, dass ein sehr starker Großmeister sich des komplexen Themas angenommen hat. Sam Shankland gewann 2019 völlig überraschend die U.S. Meisterschaft vor u.a. Caruana, Nakamura, So und bringt stattliche 2700 Punkte auf die ELO-Waage. Bezogen auf das Thema Bauern heißt sein Werk treffend “Small Steps to Giant Improvement”. Dabei versucht Shankland dem Leser nützliche Guidelines an die Hand zu geben.
Einfach, aber schön veranschaulicht das nachfolgende Beispiel, wann ein Bauernzug nach vorne gut ist und wann schlecht:
Nach 1.e5! hat Weiß das klassische Endspiel guter Springer vs. schlechter Läufer.
In dieser Stellung könnte Schwarz nach 1.e5? mittels Lc5-b6-c7 den Bauern angreifen. 1.exd5! ist hier der klar bessere Zug.
Beeindruckt hat mich das nachfolgende Beispiel aus Karpov-Taimanov (Moskaus 1972):
Die weiße Stellung ist prima: guter Springer gegen schlechter Läufer, Freibauer und der schwarze d-Bauer ist blockiert. Aber wie geht es weiter? Karpov spielte 26.h4! und nach 26…h6 folgte 27.g4! nebst h5 und g5! und die Partie wurde am Königsflügel entschieden. Shankland gibt einem die Regel an die Hand, dass Bauernvorstöße vor dem eigenen König immer dann in Betracht kommen, wenn man mehr Figuren in dieser Zone hat und die Schlüsselfelder vor dem König unter Kontrolle hält. Hier offenbart sich m.E. allerdings eine Schwäche seiner Guidelines: läuft der Angriff ins Leere, könnten die vorgerückten Bauern zur Angriffsmarke im Endspiel werden. Also wie immer im Schach – nicht alles zu dogmatisch anwenden und schon gar nicht blind irgendwelchen Regeln folgen.
Sehr gut gefallen hat mir, dass es viel erklärenden Text und kein ausuferndes Variantendickicht gibt, so dass man nicht unbedingt ein Schachbrett benötigt, wenn man mit dem Buch arbeitet. Es gibt viel zu entdecken und mir gefällt der Ansatz, sich grundsätzlich Gedanken über Bauernzüge (und nicht so sehr Bauernstrukturen) zu machen. Shankland hat seine Analysen mit einer Engine geprüft und spannend wird es immer dann, wenn er mit der Bewertung der Maschine nicht einverstanden ist. Nach jedem Kapitel gibt es zwei Aufgaben zum Selberlösen, bei dem man das soeben Gelernte direkt anwenden kann. Das Buch ist nur in englischer Sprache erhältlich, aber mit solidem Schulenglisch gut verständlich. Außerdem machen Formulierungen wie “White has an active bishop, lasering on the e7-pawn” oder “Black is asking for trouble” Spaß.
Zum Abschluss ein toller Vergleich zwischen zwei populären Systemen der Sizilianischen Verteidigung. Einmal wird “Harry” im Drachen zum Matchwinner und ein anderes Mal im Englischen Angriff des Najdorf-Systems zum zahnlosen Tiger:
Dies ist eine Standardposition im Sizilianischen Drachen, allerdings nach einer schwarzen Ungenauigkeit. Unter strategischen Gesichtspunkten steht Schwarz gut: Läuferpaar, kompakte Bauernstruktur, die Figuren stehen prima. Wäre da nicht die Angriffsmarke g6 – nach 14.h4 ist Schwarz bereits im höheren Sinne verloren!
Verglichen mit der vorangegangenen Stellung hat Schwarz weniger strategische Trümpfe: kein Läuferpaar, schwacher Punkt d5, rückständiger Bauer auf d6 und nur etwas kompensiert durch den schlecht postierten Springer auf b3. Aber Schwarz hat seine Königsstellung nicht kompromittiert und daher ist seine Stellung absolut spielbar! 11. h4?! kommentiert Shankland treffend mit “Wrong move, wrong plan.” Weiß wird seinen h-Bauern bis nach h6 ziehen und nach dem schwarzen g6 keine Angriffsmarken haben.
Arnos Meinungsbox zum Buch:
Reputation | unterschätzt | eine kleine – noch nicht so bekannte – Perle! |
Lernfaktor | sehr gut | das ist für jeden etwas dabei (ab ca. DWZ 1400) |
Spaßfaktor | gut | die Aufgaben sind lösbar; man kann es auch als Lesebuch nutzen |
Schachkultur und Schachgeschichte | neue Einblicke | Stellungsbewertung Engine vs. Stellungsbewertung Super-GM |
Ausstattung | gut | + genügend Diagramme + gibt es als Hardcover- und Softcover-Ausgabe + gewohnte Quality-Chess-Qualtiät |