Der Mittelteil von Peter Jacksons epischer Hobbit-Triologie trägt den schönen Namen “Smaugs Einöde”. Der böse Drache Smaug wacht im “Einsamen Berg Erebor” über einen gewaltigen Schatz. Bilbo Beutlin macht sich mutig mit einer Schar von Zwergen auf, um Smaug den wertvollsten Edelstein des Schatzes abzuluchsen. Wage ich mich an die Bücher Mark Dworetskis, denke ich manchmal, dass sich so der kleine Hobbit gefühlt haben muss: der Weg ist beschwerlich, oft kommt man von der richtigen Variante ab und überall lauert der böse Analysetod. Mir wird immer wieder brutal vor Augen geführt, dass ich unwissend bin und eigentlich gar keine Chance habe, die mir gestellten Aufgaben zu lösen.
Dworetskis Bücher mögen oder nicht, das ist eine Frage der Haltung!
Johannes Fischer
Ja, das ist irgendwie schon richtig! Sich auf Dworetski einzulassen bedeutet harte Arbeit und geschenkt wird einem nichts. Aber die große Frage ist: lohnt sich der ganze Aufwand? Lasst uns mal schauen, ob wir dem strengen Trainer die eine oder andere Perle russischer Schachweisheit abjagen können. Allerdings nehmen wir unseren Zauberer Komodo mit. Den setzen wir bei Bedarf ein, um zu schauen, ob Dworetski trotz nächtelanger (manchmal jahrelanger) Analysearbeit und geballter Hilfe seiner Meisterschüler wirklich immer richtig liegt.
Der erste Teil unserer Reise trägt den Titel “Geheimnisse gezielten Schachtrainings”. Dieses Buch erschien 1993 im Olms-Verlag und war damals die erste Arbeit Dworetskis, die einem nicht-russisch sprechenden Publikum zugänglich gemacht wurde. Dementsprechend groß war meine damalige Erwartung, da “Dworetski in diesem Buch seine Methode entfaltet, mit der er talentierte Spieler auf Großmeisterniveau bringt” (Rückentext). Gegliedert ist es in drei Teilen (Analyse von Hängepartien, Endspiel und Studien) und anhand der Themen könnt ihr schon erahnen, dass fast ausschließlich Endspiele analysiert werden. Das ist nachvollziehbar, da gerade Endspiele und Studien sehr konkrete Analysen erfordern. Ärgerlich ist aber, dass der unbedarfte Käufer vielleicht andere Erwartungen hat.
Das Buch ist vor allem für Spieler hoher Qualifikation gedacht – viele der ausgewählten Beispiele sind sehr schwierig. Aber, ich denke, dass auch Leser mit noch nicht so hoher Kunstfertigkeit dem Buch verständliche und für ihn interessante Seiten abgewinnen können.
aus dem Vorwort Mark Dworetskis zu seinem Buch “Geheimnisse gezielten Schachtrainings”
Dworetski war bekannt für seine legendäre Karteikarten, auf denen er interessante Stellungen samt deren Lösungen dokumentierte. Diese sind oft aus den Analysen von Hängepartien seiner eigenen Partien oder denen seiner besten Schüler (hier: Dolmatov und Jussupow) entstanden. Seine Karteikarten bilden dann auch das Grundgerüst für seine Bücher. Und ich glaube, dass hier der Kern des Problems liegt. Viele der Stellungen sind meiner Meinung nach nicht dafür geeignet, um wirklich etwas daraus zu lernen oder das gerade behandelte Thema zu veranschaulichen. Versteht mich nicht falsch, natürlich lernt man immer etwas, wenn man sich mit Schach beschäftigt. Aber von einem Lehrbuch darf man ausgesuchtes und anschauliches Material erwarten – richtig? Fangen wir mit einem positiven Beispiel an:
Eine wirklich sehr lehrreiche Stellung zum Thema Turmendspiele.
– Zentralisation des eigenen Königs
– Abschneiden des gegnerischen Königs
– Aktivität des Turms
– Bauernketten an der Basis angreifen (hier: f7!)
Leider arbeitet MD nicht alle Motive gründlich heraus. Vor allem das Abschneiden des Königs wird meiner Meinung nach nicht genügend gewürdigt. Dabei ist es das zentrale Element dieser Stellung und in einigen Varianten sogar einen ganzen Bauern wert!
Kommen wir zu einem Beispiel, welches zum Thema “Das Prinzip der zwei Schwächen” angeführt wird. MD schreibt zu dieser Stellung einleitend: “Schwarz besitzt einen gesunden Mehrbauern und dazu den Vorteil des Läuferpaars. Es schein, als sei der Sieg nur eine Frage einfachster Technik. Trotzdem konnte ich lange Zeit (in der Analyse der Hängepartie) keinen Gewinn ausfindig machen.” MD analysiert die nachstehende Stellung in aller (langweiligen) Ausführlichkeit – ich gebe hier nur die Partiefortsetzung mit minimalen Varianten an:
Was soll uns das sagen? Es ist klar, dass Schwarz in der Ausgangsstellung auf Gewinn steht und es bestimmt nicht nur einen Gewinnweg gibt. Das kann man jetzt bis zum Erbrechen analysieren. Besser sind hier allgemeine Ratschläge:
– Figuren aktiv stellen (Ta2!)
– wichtige Felder im Auge behalten (f5!)
– Generalabtausch aller Leichtfiguren erstmal vermeiden
– ungleichfarbige Läuferendspiele extrem vermeiden
– nichts einstellen (auf Springergabeln achten!) – immer gut, richtig?!
MD: “Die richtige Schwäche besteht für die stärkere Seite in derartigen Fällen immer darin, im Lager des Gegners eine zweite Schwachstelle auszumachen oder zu erzeugen.”
– Wo bitte ist die erste Schwachstelle in der Ausgangsstellung?
– Die zweite Schwachstelle entsteht nach g4: nämlich der Bauer h3. Dieser Bauer ist aufgrund der aktiven Turmstellung des Schwarzen angreifbar und daher schwach.
MD geht auf diese beiden Punkte nicht ein. Und das ist wirklich schwach! Jedenfalls findet man bei den Klassikern (Capablanca und Aljechin fallen mir da ein), sehr viel besseres Material zu diesem Thema.
Dieses Buch hat mittlerweile seine 4. Auflage gesehen und wenn man den Hype um Dworetski berücksichtigt, dann ist es – bei allem Respekt vor Mark Israilewitsch – eine Enttäuschung. Es sei denn, man freut sich über die Erkenntnis, dass das Geheimnis gezielten Schachtrainings letztlich harte Analysearbeit bedeutet. Den größten Nutzen hat man, wenn man beim lockeren Durchlesen des Buches bei den Stellungen verweilt, die einen wirklich interessieren. Diese “dürfen” dann auch analysiert werden. Überlegt und versucht herauszuarbeiten, was wirklich wichtig war! Und denkt daran: der Meister verrät euch nicht alles!
Arnos Meinungsbox zum Buch:
Reputation | überschätzt | Dworetski eben, verkauft sich wie geschnitten Brot |
Lernfaktor | gut bis mangelhaft | wie gesagt: es kommt auf deine Haltung an (ab ca. DWZ 1800) |
Spaßfaktor | mangelhaft | oft frustrierend; harte Arbeit |
Schachkultur und Schachgeschichte | überraschende Einblicke | MD plaudert auch mal aus dem Nähkästchen. Und ja, es gab früher mal Hängepartien! |
Ausstattung | mäßig | + genügend Diagramme – zu wenig Platz zwischen Trainingsfrage und folgendem Text (muss abgedeckt werden) – kartoniert und ein wenig lieblos |
Danke für deine beruhigenden Worte! Ich dachte schon es läge an mir, dass ich bei Dworetski oft nur Bahnhof verstehe. 🙂 Meiner Meinung nach merkt man den Büchern schon an, dass MD eigentlich nur mit sehr starken Spielern zusammenarbeitet. Ob man das jetzt als Fehler der Bücher ansehen möchte oder als Fehler der Leser, mag jeder selbst entscheiden. Ein echter Kritikpunkt ist aus meiner Sicht, dass die Varianten alle noch aus der Vor-Computerzeit stammen. Ich habe mal in dem Taktikbuch von Dworetski lange an einer Aufgabe gegrübelt, anschließend die zweiseitige Lösung voller taktischer Neben- und Untervarianten aufgeschlagen, trotzdem nur Bahnhof verstanden, und mich anschließend noch durch die Lektüre des Kommentars gedemütigt, dass man diese Varianten natürlich bereits vor dem ersten Zug alle konkret berechnet haben müsste. Da hat es mich dann doch gefreut, dass der zu Rate gezogene Computer viele der Varianten in der Luft zerissen hat. Von wegen konkrete Berechnung… Ich glaube dass die meisten Amateure, die versuchen würden solche Varianten bis zum Schluss durchzurechnen, einfach nur in horrende Zeitnot kämen.
Und trotzdem: Ich habe schon die ein oder andere Perle aus MDs Büchern gezogen, insbesondere den Teil über die Behandlung “einfacher Stellungen” aus einem seiner Bücher fand ich echt super.
Gesamtfazit zu MD: Man muss schon sehr leidensfähig sein. Und wenn es um größtmögliche Effizienz (aufgewendete Zeit im Verhältnis zum Ertrag) geht, dann dürften für die meisten von uns andere Bücher besser sein.
Hallo Arno, sehr interessante und inhaltlich stark geschriebene Rezension! Hat mir gut gefallen.
Sehr guter Beitrag, Arno. Ich freue mich auf die nächsten aus der Serie.
Meine einzige Erfahrung mit Büchern von Dworetski ist aus unserem Training am Freitag. Ich glaube, dass Thomas ab und zu ein seiner Bücher dabei hatte und wir haben uns Stellungen angeschaut. Ich freue mich zu lesen, dass auch Spieler von deinem und Thomas Niveau diese Bücher als zu Anspruchsvoll empfinden. Das deckt sich mit meiner Meinung dazu, ich dachte nur, dass es an meiner Spielstärke liegt.